Martin

Martin aus Tennessee schuftete von früh bis spät auf seiner Farm. Am Abend jedoch, wenn die Felder bestellt und das Vieh in den Ställen war, holte der fleißige Mann die alte Westerngitarre, auf der sein Vater schon gespielt hatte, setzte sich auf seine Veranda, schenkte sich einen Whisky ein, sah der Sonne beim Untergehen zu und spielte den Blues. Und jedes Mal, wenn im Country Club ein Fest gefeiert wurde, lud man Martin ein, für eine Handvoll Dollar den Blues zu spielen, denn bei Gott, das konnte er.
Doch seit einiger Zeit schlichen sich immer wieder fremdartige, verschlungene Melodien in seinen Kopf ein. Er versuchte, sie zu verscheuchen, er war doch ein Bluesman, aber es gelang ihm nicht! Als er auch noch anfing, von smaragdgrünen Steilküsten zu träumen, beschloss er, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Ihm fiel ein, dass seine Mutter einmal erwähnt hatte, sein Großvater selig sei einst von einer Insel jenseits des großen Teichs nach Amerika gekommen.
So ging er zur kleinen Kirchengemeinde seines Dorfes und bat den Reverend, ihm Einblick in das Kirchenregister zu gewähren. "Lass doch das Vergangene ruhen, Sohn!", mahnte der Reverend, doch Martin blieb hartnäckig, und schließlich gab der betagte Gottesmann nach und stieg mit Martin hinab in den dunklen Keller, wo die alten Kirchenbücher aufbewahrt wurden. Es stellte sich heraus, dass Martins mütterlichen Vorfahren, die O´Lanaghans, vor langer Zeit aus Irland eingewandert waren!
In Martin keimte der Wunsch auf, das Land seiner Vorfahren zu bereisen, und so verpachtete er seine Farm und machte sich auf zur grünen Insel. Eines Abend saß er in einem Pub in Galway und schlürfte seinen Whisky, als plötzlich genau die Melodien ertönten, die er immer im Traum vernommen hatte. Es war nämlich eine Session im Gange, und er konnte nicht an sich halten und schnappte sich eine Gitarre, die an der Wand hing, um sogleich mitzuspielen.
Besonders angetan hatten es ihm drei holde Maiden (bonnie wee lassies), die engelsgleich sangen und spielten. Er hielt sie für Irinnen, doch weit gefehlt! „Wir sind aus Österreich hierher gekommen, weil wir wieder auf der Suche nach einem Gitarristen sind“, erzählten sie ihm. „Willst du fortan mit uns spielen?“
Da überlegte er nicht lang, verkaufte seine Farm in Tennessee und ward fortan der neue (und hoffentlich letzte) Mann an der Gitarre bei All Souls Night.